Kapitalist wegen des vollen Bücherregals? Zur Kritik der Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu versteht seine soziologische Theorie und Forschung als Erweiterung der Analyse Marx‘. Die Rede von verschiedenen, nicht-ökonomischen Kapitalsorten mag einen als junge Student:in marxistischer Theorie schnell in Verwirrung stürzen. Deshalb hier eine kurze kritische Klärung.

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Pierre Bourdieu unterscheidet in diverse Kapitalsorten: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital und symbolisches Kapital. Hierbei erkennt er jedoch das Primat, d.h. den Vorrang des ökonomischen Kapitals an. So schreibt er, es sei die „dominierende Kapitalform“ (Bourdieu 1997: 60). Um die Kritik an Bourdieus Kapitalbegriff zu veranschaulichen, soll sich im Folgenden mit seiner Definition von sozialem Kapital auseinandergesetzt werden. Das soziale Kapital sei laut Bourdieu

„[…] die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ (Bourdieu 1997: 63)

Für die Reproduktion von Sozialkapital reicht demnach eine permanente Beziehungsarbeit, eine Pflege der persönlichen Kontakte bzw. sozialen Beziehungen. Hier zeigt sich bereits ein grundlegender Unterschied der Kapital/Klassenbegriffe. Denn Marx verwendet einen relationalen Klassenbegriff, nach welchem sich Klassen nicht isoliert voneinander definieren lassen, sondern nur im Rahmen des gesellschaftlichen Antagonismus: Ohne Proletariat keine Bourgeoisie, ohne Bourgeoisie kein Proletariat. Daraus folgt ein Verständnis von Kapital, nach welchem dieses nur durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft, und nicht bloß durch persönlichen Einsatz akkumuliert, also angehäuft, und vermehrt werden kann.

 

Antagonismus:
Mit dem Begriff Antagonismus ist der unversöhnliche Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen gemeint, deren hauptsächliche Interessen miteinander unvereinbar sind gemeint. Dieser Existiert zwischen Kapital und Arbeit, da das Profilinteresse des Kapitalisten nur durch Ausbeutung, also unter Missachtung der Interessen der Arbeitenden, denen u.a. vor allem an hohen Löhnen liegt, verwirklicht werden kann. Nichtantagonistische Widersprüche gibt es dagegen zwischen Gruppen und Klassen, die zwar einige gegensätzliche Interessen besitzen, aber durch grundlegende Gemeinsamkeiten verbunden sind.

Während es beim ökonomischen Gesamtprodukt einer Gesellschaft einleuchtet, dass der einen Person nur das zusätzlich gegeben werden kann, was der anderen weggenommen wird, ist dies bspw. für soziales Kapital, dessen gesellschaftlicher Gesamtumfang nach oben prinzipiell offen ist, überhaupt nicht einsichtig zu machen. Jemand kann in einer Wettbewerbssituation soziales Kapital gegen mich einsetzen, aber er/sie muss es dazu nicht von mir (noch überhaupt von irgendwem) nehmen. Bei Bourdieu ist Kapital, anders als bei Marx, wo es ein Ausbeutungsverhältnis darstellt, vielmehr eine Ressource, eine Verfügung über bestimmte knappe Mittel, aber nicht ein auf die gesellschaftliche Arbeit zurückgeführtes Verhältnis, das auf der Ausbeutung und Aneignung fremder Arbeit beruht. Bei Bourdieu wird daher das Konzept des Antagonismus der Klassen durch jenes des Agonismus (also des Wettkampfs) ersetzt.

Dieses von Grund auf verschiedene Verständnis von Kapital, welches bei Marx eine Zirkulationsform (G-W-G´), also eine Bewegung ist und bei Bourdieu ein Ding, eine Ressource, wird besonders klar, wenn Bourdieu schreibt:

„Kulturelle Güter können somit […] zum Gegenstand materieller Aneignung werden; dies setzt ökonomisches Kapital voraus“.

Selbstverständlich braucht es zum Erwerb von Sachbüchern oder Nachschlagewerken Geld, doch Geld ist nicht automatisch Kapital. Zumindest nicht bei Marx, bei dem Geld erst im Produktionsprozess – im Wesentlichen ein Prozess der Aneignung fremder Arbeit – in Kapital verwandelt wird. Geld, Bildung, Fähigkeiten oder Beziehungen (=soziales Kapital) sind zweifelsohne wichtig für das Emporkommen bzw. den Statuserhalt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, aber es handelt sich dabei im Wesentlichen um Ressourcen, die nützlich sein können oder nicht , nicht aber um Kapital im Marx’schen Sinne, welches dazu dient, Arbeitskraft als Ware einzukaufen, um dadurch Mehrwert abzuschöpfen.

Wir halten es daher für falsch, wenn davon gesprochen wird, Bourdieu habe den Marxschen Kapitalbegriff erweitert. Denn seine ‚Erweiterung‘ ist in Wirklichkeit eine Verengung des Kapitalbegriffs und zwar auf die Ebene der Distribution, also der Verteilung. Eine Folge davon ist, dass nach dem Bourdieuschen Kapitalbegriff eine Mehrzahl der Menschen zu „Kapitalist:innen“ werden, solange sie nur etwas Geld oder Bildung haben. So werden die realen, gewaltsam herrschenden, Klassenverhältnisse vernebelt, wenn in seiner Vorstellung akademische Professor:innen aufgrund des Umfangs an besessenem kulturellen, sozialem,  instituionalisiertem und, vermittelt über das Gehalt, ökonomischem ‚Kapital‘ an die Spitze der Klassenhierarchie geraten. Eine falsche Gewichtung der soziologischen Elemente des gesellschaftlichen Verkehrs, drängt dabei die eigentlich dominierenden Macht- und Zwangsverhältnisse der Produktion auf einen, ihrer eigentlichen Bedeutung nicht angemessenen, Nebenschauplatz. Das macht es aber letztendlich praktisch unmöglich, einen Hebelpunkt für gesellschaftliche Veränderung oder ein revolutionäres Subjekt herauszuarbeiten. Hinzu kommt, dass Bourdieu kaum theoretische, geschweige denn historische Erklärungen für die Entstehung von Kapital liefert.

Auch wenn wir Bourdieus Kapitalbegriff klar ablehnen und als nicht haltbar ansehen, wollen wir damit den Forschungen Bourdieus nicht jegliche Nützlichkeit absprechen. Es ist jedoch wichtig den marxschen Kapitalbegriff klar von dem Bourdieus abzugrenzen und die theoretische Arbeit Bourdieus richtig einzuordnen, indem uns bewusst ist, dass sie interessant für konkrete soziologische Forschung sein kann und um beispielsweise Hierarchien in der eigenen unmittelbaren Umgebung (Schule, Familie, gesellschaftliche Millieus etc.) zu analysieren. Nicht jedoch, um die marxsche Klassenanalyse zu ersetzen. Denn uns als Kommunist:innen geht es bei der Klassenanalyse letztendlich nicht einfach um interessierte Erkenntnisse im Bereich der Soziologie oder der politischen Ökonomie, sondern darum die Gesetzmäßigkeiten der Lebensrealitäten der ausgebeuteten und unterdrückten Teile der Gesellschaft zu erfassen, um sie daraufhin in der Praxis für den Kampf für den Sozialismus zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein allgemeines (z.B. ökonomisches) Verständnis der Klassenstruktur der BRD zwar absolut unerlässlich, aber keinesfalls ausreichend. Die Klassenanalyse dient vielmehr langfristig dazu, uns in die Lage zu versetzen, uns in diesen grundlegenden Dynamiken zurechtzufinden und darauf aufbauend eine revolutionäre Strategie zu entwickeln.

rote jugendakademie, 2022

Verwendete Literatur:
Bourdieu, Pierre (1997): Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VSA

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